„Halt-Befehl“: Warum Hitler den Sturm auf Dünkirchen stoppte - WELT (2024)

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Der Befehl von höchster Stelle war eindeutig: „Auf Befehl des Führers ist ... die allgemeine Linie Lens–Béthune–Aire–St. Omer–Gravelines (Kanallinie) nicht zu überschreiten“, funkte das Oberkommando der deutschen Heeresgruppe A am 24. Mai 1940 gegen 12.45 Uhr. Mit diesem berühmten „Halt-Befehl“ wurden die deutschen Panzerkommandeure angewiesen, ihren Vormarsch auf den Hafen Dünkirchen umgehend zu stoppen, wohin sich rund 400.000 Mann britische und französische Truppen geflüchtet hatten.

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Dieser „Halt-Befehl“ und seine Folgen zählen zu den umstrittensten Aktionen des Zweiten Weltkrieges. Denn er ermöglichte es der britischen Führung, 220.000 britische Soldaten, das Gros des auf den Kontinent entsandten Expeditionskorps, sowie 118.000 Franzosen zu evakuieren. Mit diesem Kern erfahrener Berufssoldaten wurde Großbritannien überhaupt erst in die Lage versetzt, den Krieg fortzuführen. Hätte sich das Land dagegen 1940 einem Friedensdiktat Hitlers beugen müssen, wäre die Wehrmacht 1941 mit 40 zusätzlichen Divisionen und einer nicht durch die Luftschlacht um England dezimierten Luftwaffe gegen die Sowjetunion angetreten. „Moskau wäre wohl gefallen, Leningrad auch“, folgerte der amerikanische Publizist Norman Gelb.

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Westfeldzug 1940

Mit einem Trick lockte die Wehrmacht die Alliierten ins Verderben

Während britische Historiker auf ihre Weise am „Wunder von Dünkirchen“ strickten, haben sich ihre deutschen Kollegen und die überlebenden Militärs nach dem Krieg an der heiklen Frage abgearbeitet, warum diese große Chance auf einen totalen Triumph im Westen vergeben wurde – was allerdings bedeutet hätte, dass das NS-Regime der Weltherrschaft ein großes Stück näher gekommen wäre. Selbst jetzt, 80 Jahre danach, werden die alten Schlachten wieder geschlagen, vor allem jenseits des Kanals.

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Die Fakten sind ziemlich klar. Nachdem die Heeresgruppe A unter dem Oberbefehl Gerd von Rundstedts mit dem Gros der deutschen Panzer bis zum 14. Mai die alliierten Linien an der Maas durchstoßen hatte, erreichten die deutschen Spitzen am 20. Mai die Kanalküste. Damit war der geplante „Sichelschnitt“ gelungen, die besten französischen und englischen Truppen waren eingekesselt und wurden von der deutschen Heeresgruppe B unter Günther von Kluge von Norden und Osten attackiert.

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Legende Blitzkrieg

„Der schockartige Einsatz der deutschen Panzer bewirkte Panik“

Bis dahin waren die motorisierten Verbände der Panzergruppe Kleist, in der 1200 Panzer und 40.000 Fahrzeuge der Heeresgruppe B konzentriert waren, nahezu pausenlos im Einsatz gewesen und hatten erhebliche Verluste hinnehmen müssen. Ein britischer Gegenangriff mit schweren Panzern bei Arras am 21. Mai war zwar gestoppt worden, doch hatte er einmal mehr bewiesen, dass die alliierten Kampfwagen im direkten Vergleich den deutschen technisch überlegen waren.

In dieser Situation befürchtete Rundstedt – er hatte seine lange Karriere in der Infanterie absolviert – , dass die „schwachen Kleist’schen Truppen von den ausweichenden Engländern überrannt“ würden. Nach Absprache mit Kluge und gegen den Widerstand der Panzergeneräle gab er am Abend des 23. Mai den Befehl, dass die Panzer ihren Vormarsch für einen Tag unterbrechen sollten, bis die Infanterie „aufgeschlossen“ habe.

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Dünkirchen 1940

Panzerkolosse provozierten Hitlers „Halt-Befehl“

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Dieser Befehl lief der Operationsplanung des Generalstabschefs Franz Halder zuwider, der damit den „Sichelschnitt“ verwässert sah. Walther von Brauchitsch als Oberbefehlshaber des Heeres sah das genauso und unterstellte gegen Mitternacht sämtliche Panzer der Heeresgruppe A der Heeresgruppe B, während jene eine neue Front an der Somme aufbauen sollte.

Erst am Vormittag des 24. Mai erfuhr Hitler bei einem Besuch im Hauptquartier der Heeresgruppe A davon. Umgehend machte er die Anordnungen seiner obersten Generäle rückgängig und erließ den „Halt-Befehl“, der erst zwei Tage später aufgehoben werden sollte. Die Zeit genügte der britischen Führung, ihre Stellungen um Dünkirchen so weit zu verstärken, dass die Evakuierung der eingeschlossenen Truppen durch eine Armada von Zerstörern, Fähren und Fischkuttern anlaufen konnte.

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Zweiter Weltkrieg

Der Mythos von den überlegenen deutschen Panzern

Warum stoppte Hitler seine Panzer? Auf deutscher Seite bestimmten nach dem Krieg die Generäle die Debatte. So verteidigte sich Rundstedt, er habe nur auf Anordnung Hitlers gehandelt. Dass aber er es war, der den Befehl zum „Aufschließen“ der Infanterie gegeben hatte, entlarvte seine Darstellung als Apologie.

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Selbst als Halder am 25. Mai den „Halt-Befehl“ aufweichte, indem er beide Heeresgruppen für die „Fortsetzung des Angriffs ... freigab“, verweigerte sich Rundstedt. Hitler hatte ihm ausdrücklich die „Entscheidung“ über die Fortführung des Angriffs übertragen. Nun ließ er die „mot.(orisierten) Gruppen erst einmal in sich aufschließen“, heißt es im Kriegstagebuch der erstaunten Führung der Heeresgruppe A.

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Mit Rundstedt wären es also die konservativ denkenden Generäle der Wehrmacht gewesen, die den Möglichkeiten des Panzers misstrauten und weiterhin Flankenangriffe befürchteten. Darin fanden sie in dem Meldegänger des Ersten Weltkrieges einen Gleichgesinnten, schreibt der berühmte britische Militärdenker Basil Liddell Hart. In Hitler sei „seine alte Angst vor dem Marschland Flandern“ hochgekommen. Zwei weitere Motive des Diktators seien dagegen politischer Art gewesen: Er habe England die Möglichkeit eines „ehrenhaften“ Friedens bieten wollen und Hermann Göring die Chance, mit seiner „nationalsozialistischen“ Luftwaffe die Evakuierung aus Dünkirchen zu verhindern.

Nicht nur, dass die beiden letztgenannten Motive einander ausschlossen. Erst unlängst hat der britische Historiker Andrew Roberts darauf hingewiesen, dass England nach Vernichtung seines Heeres viel schneller zu einem Frieden bereit gewesen wäre. Eine Nachricht aus dem Führerhauptquartier belegt, dass man dort längst von der Vernichtung von „vier Fünftel(n) der englischen Expeditionsarmee“ ausging. Für die Luftwaffe galt im Übrigen das Gleiche wie für die Panzer: Nach mehreren Wochen ununterbrochenen Einsatzes war sie ebenso ausgelaugt wie diese.

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Roberts sieht dagegen einen anderen Faktor beim „Halt-Befehl“ am Werk: Hitlers Persönlichkeit. Der Diktator misstraute seinen Generälen und ihrem Sachverstand, ihren Lageberichten, ihren Szenarien, weil er den modernen Bewegungskrieg nicht verstand.

Stattdessen sah er sich durch ihre Kriegführung um die eigene Rolle als Oberster Befehlshaber gebracht. Er hatte den „Sichelschnitt“-Plan, den der General Erich von Manstein entwickelt hatte, gegen den Widerstand des Generalstabes durchgesetzt. Nun wollte er seine Rolle als Feldherr auch bei seinem siegreichen Gelingen spielen. Diese Argumentation findet sich bereits in Band II. des großen Reihenwerkes „Das Deutsche Reich und der Zweite Weltkrieg“ des Zentrums für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr.

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Zweiter Weltkrieg

Gegen Frankreich wurde der „Blitzkrieg“ erdacht

Ein inzwischen pensionierter Historiker des Potsdamer Hauses, Karl-Heinz Frieser, hat in seinem Standardwerk „Die Blitzkrieg-Legende“ diesen Aspekt weiter ausgeführt. Danach nutzte Hitler den Streit der Generäle über die richtige Operationsführung, um ihnen seine persönliche Autorität als militärischer Führer aufzuzeigen: „Hitler wollte bei Dünkirchen eigentlich nicht die Panzer, sondern die Generalität im Oberkommando des Heeres stoppen. Es ging ihm schlichtweg ums Prinzip, nämlich das ,Führer-Prinzip‘.“

Dass Brauchitsch und Halder Rundstedt eigenmächtig entmachtet hatten, hätte Hitlers „Machtinstinkt“ alarmiert, argumentiert Frieser. Nicht umsonst notierte Alfred Jodl als Chef des Wehrmachtführungsstabes, der „Führer“ habe „sehr unwillig“ reagiert, als er Rundstedt am Vormittag des 24. Mai in seinem Hauptquartier besuchte und von der Umgruppierung der Panzer erfuhr. In seiner Wut habe Hitler die „Hackordnung wiederherstellen“ wollen, so Frieser. Indem er Rundstedt die „Entscheidung“ über die Fortführung der Kämpfe überließ, degradierte er zugleich die obersten Generäle der Wehrmacht zu Statisten.

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Es sollte nicht das letzte Mal sein. Im Mai 1940 bei Dünkirchen schlüpfte Hitler zum ersten Mal aktiv in die Rolle des „größten Feldherrn aller Zeiten“. Verlassen hat er sie von da an nicht mehr.

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Dieser Artikel wurde erstmals im Mai 2020 veröffentlicht.

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