Dünkirchen: Warum Adolf Hitler die Briten entkommen ließ - WELT (2024)

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Die Botschaft war klar: „Wir werden uns niemals ergeben!“, verkündete Winston Churchill mit bemerkenswerter ruhiger Stimme im britischen Unterhaus am 4. Juni 1940. Als ein paar Sätze später, nach der Schlusspointe des Premierministers, donnernder Applaus aufbrandete, sagte Churchill einem Abgeordneten neben sich leise: „Und wir werden sie bekämpfen mit den Enden zerbrochener Flaschen, denn das ist verdammt alles, was wir noch haben.“

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Die Anekdote ist in Deutschland nahezu unbekannt; Thomas Kielinger berichtet sie in seiner 2014 erschienenen Churchill-Biografie. Und sie ist wahr: Denn am 4. Juni 1940 endete gerade die größte Evakuierungsaktion der Weltgeschichte.

In den vorangegangenen zehn Tagen, seit dem 26. Mai, waren auf britischen und französischen, aber auch einigen belgischen und holländischen Schiffe insgesamt 338.226 alliierte Soldaten aus dem Kessel um den französischen Badeort Dünkirchen abtransportiert worden. Doch sie ließen am Strand und in den Dünen, vor allem aber auf den Straßen Richtung Dünkirchen ungeheure Mengen an militärisch wertvollem Material zurück.

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Insgesamt 316.000 Mann hatte die British Expeditionary Force (BEF) in Nordostfrankreich und Belgien umfasst, als die Wehrmacht am 10. Mai 1940 ihren Angriff begonnen hatte. Doch innerhalb von nicht einmal zwei Wochen war diese Streitmacht faktisch geschlagen, hatte die deutsche Heeresgruppe B mehr als zwei Drittel der Männer beiderseits der französisch-belgischen Grenze und dem Ärmelkanal eingekesselt.

Zwar hatten britische Panzer am 21. Mai mit einem Angriff bei Arras eine Krise bei den deutschen Truppen heraufbeschworen. Die aber konnten gerade noch eine Auffangstellung aufbauen. Nachdem die Krise behoben worden war, ging deren Vormarsch ungehemmt weiter.

Schon am 19. Mai hatte die britische Regierung unter Churchill zum ersten Mal die Evakuierung der eigenen Truppen erwogen, aber noch verschoben. Das hätte sich leicht als verhängnisvoll erweisen können, doch entgegen aller Erwartungen ordnete Hitler fünf Tage später an, die weitere Einschnürung zu stoppen: „Auf Befehl des Führers ist nordwestlich Arras die allgemeine Linie Lens – Bethune – Aire – St. Omer –Gravelines (Kanallinie) nicht zu überschreiten.“

Über diesen Befehl, der die britische Armee retten sollte, wird bis heute gerätselt. Schwierige Witterungsverhältnisse und die Sorge um den Ausfall der wertvollen Panzer wurden für Hitlers Entscheidung ins Feld geführt. Karl-Heinz Frieser, Historiker am Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr in Potsdam, hat eine andere These entwickelt: Danach wollte der Diktator seinen Generälen deutlich demonstrieren, „wer bei operativen Entscheidungen das Sagen haben sollte, der Generalstab oder der Zivilist Hitler. Dieser gewann den Machtkampf.“ Denn der Generalstab hatte sich für einen schnellen Vormarsch stark gemacht.

Zwar hatte Hitlers „Halte-Befehl“ denn auch nur 49 Stunden lang Bestand, doch diese kurzzeitige Pause erlaubte es der Royal Navy, die verlorene Zeit wieder gut zu machen.

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Dünkirchen war eine Hafenstadt nahe der schmalsten Stelle des Ärmelkanals bei Calais, das aber schon seit dem 22. Mai von deutschen Truppen eingeschlossen war. Natürlich hatte die deutsche Luftwaffe zu verhindern versucht, dass über die Ladeanlagen in diesen Städten gegnerische Soldaten in großer Zahl abtransportiert wurden; deshalb waren die Kais und Becken von Dünkirchen bombardiert und schwer beschädigt worden. Größere Schiffe konnte nicht mehr einlaufen.

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Doch es gab noch die Molen, die den Hafen schützten, sowie die offenen Sandstrände vor allem östlich der Stadt. Seit dem 20. Mai hatten Vizeadmiral Bertram Ramsay, der Navy-Befehlshaber des Abschnitts Dover, und sein Stab in kürzester Zeit eine Evakuierung vorbereitet – unter dem Decknamen „Operation Dynamo“.

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Alles, was im Südwesten Englands an schwimmendem Material aufzutreiben war, wurde requiriert: alle Handelsschiffe und Fähren sowieso, aber ebenso private Yachten, Ausflugsdampfer und jede Art von Rettungs- und Ruderbooten. Natürlich waren längst nicht alle diese Gefährte geeignet, die doch recht kabbelige See im Ärmelkanal zu bewältigen – doch sie konnten helfen, Soldaten den Weg von den Stränden bis zu den in tieferem Wasser ankernden hochseetauglichen Transportern zu ermöglichen.

Absoluten Vorrang hatte die Rettung der Soldaten, denn im Gegensatz zu Material konnten Menschen nicht, schon gar nicht relativ kurzfristig ersetzt werden. Also ließen die knapp zwei Drittel der BEF, die um Dünkirchen eingekesselt waren, alles zurück, was sie nicht mit sich tragen konnten.

Darunter waren mehr als 65.000 Transportfahrzeuge aller Art, rund 20.000 Motorräder, mehr als 2400 Geschütze und alle übrig gebliebenen der 445 Panzer, die zum Bestand der Streitmacht gehört hatten. Noch gravierender waren der Verlust von fast 380.000 Tonnen Verpflegung und sonstigem Nachschub, 68.000 Tonnen Munition aller Kaliber und 147.000 Tonnen Treibstoff.

Alle Zahlen übrigens sind Näherungswerte, denn kein Nachschuboffizier machte sich die Mühe, die zurückgelassenen Bestände zu inventarisieren. In einem ausführlichen, 28 Seiten langen Bericht über die „Operation Dynamo“ von Juli 1947 in der „London Gazette“ wurden daher andere Werte angegeben als in den später von Historikern ausgewerteten Akten des britischen Generalstabes.

Tunlichst sollten die Soldaten zwar ihre persönliche Ausrüstung mitbringen, also Uniform, Stahlhelme und Gewehre. Die meisten Männer taten das auch, vor allem jene, die über die beiden Molen von Dünkirchen oder mittels Booten an Bord der Frachter gingen – mehr als zwei Drittel aller Soldaten.

Doch gerade jene, die von den Stränden durchs Wasser zu improvisierten Transportern wateten, ließen oft ihren typischen Kopfschutz, kurz „Brodie“ genannt, im Sand zurück. Als die ersten Wehrmachtseinheiten am 6. Juni 1940 hierher vorstießen, fanden sie Tausende Helme. Sie wurden eingeschmolzen und der Stahl wiederverwertet. Die meisten erbeuteten britischen Panzer und Geschütze dagegen nutzten die deutschen Truppen weiter, vor allem da genügend Munition vorhanden war. Als Beutewaffen wurden sie ab Anfang 1942 in den Befestigungen des „Atlantikwalls“ eingebaut.

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„Ohne Hitlers Intervention wäre es zur größten Katastrophe der Geschichte Großbritanniens gekommen“, sagte Karl-Heinz Frieser der „Welt“. Es hätte fast seine gesamte Berufsarmee verloren. Dies wäre wohl auch das Ende der Regierung Churchill gewesen. Eine neue Regierung aber hätte ein generöses Friedensangebot des anglophilen Hitler kaum zurückweisen können.

Unter den in Dünkirchen evakuierten 338.226 Männern waren auch 98.000 Franzosen sowie Belgier. Viele von ihnen wurden nach einem Zwischenstopp in Dover wieder in Frankreich an Land gebracht, um weiter gegen die Wehrmacht zu kämpfen. Die britischen Soldaten dagegen blieben in ihrer Heimat und begannen, sich auf eine deutsche Invasion vorzubereiten. Denn sie hatten zwar etwas mehr als die „Enden abgebrochener Flaschen“, um sich gegebenenfalls zu verteidigen – aber nicht sehr viel mehr.

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