EU-Wahl Österreich: Lena Schilling wird für die Grünen zum Problemfall (2024)

Ihr einstiges Umfeld bezichtigt die erst 23-jährige Klimaaktivistin Lena Schilling als notorische Lügnerin. Nun debattiert Österreich darüber, was politisch und was privat ist.

Meret Baumann, Wien

4 min

EU-Wahl Österreich: Lena Schilling wird für die Grünen zum Problemfall (1)

Eine «Telenovela», «wie ein Autounfall», gar eine «Belästigung der Öffentlichkeit» – so bewerten seriöse Journalisten, was seit zwei Wochen den Europawahlkampf in Österreich dominiert. Denn diskutiert wird nicht über Lösungsansätze für die Kriege in der Nachbarschaft, die hohe Inflation oder den Klimawandel, sondern über Charakter und Verhalten der grünen Spitzenkandidatin Lena Schilling.

Die Regierungspartei hatte die erst 23-jährige Klimaaktivistin ohne politische Erfahrung im Februar als Quereinsteigerin an die erste Stelle ihrer Wahlliste gesetzt. Sie glaubte, damit einen PR-Coup gelandet zu haben: eine junge, rhetorisch begabte Frau, engagiert im Kernthema der Grünen, Instagram-tauglich und Tiktok-affin. Im Kreis der übrigen Listenführer der grossen Parteien – alles Männer über 55 – sollte sie herausstechen.

Ist das Tratsch oder eine Kampagne?

Das tut Schilling derzeit auch, allerdings ganz anders als geplant. Anfang Mai publizierte die Zeitung «Der Standard» eine grosse Recherche über die Jungpolitikerin, laut der diese in ihrem Umfeld notorisch Gerüchte, Unwahrheiten und teilweise sogar verleumderische Anschuldigungen verbreite. Sie lege «problematische Verhaltensmuster» an den Tag. Mit rund fünfzig Personen haben die Journalisten für den Artikel gesprochen. Jedes Komma darin könne man belegen, erklärt die Redaktion.

Zu einem der Fälle kennt man Details, weil er zu einem gerichtlich protokollierten Vergleich führte. Laut diesem darf Schilling nicht mehr behaupten, bei einem mit ihr bis vor kurzem befreundeten Ehepaar komme es zu häuslicher Gewalt. Warum sie diese potenziell strafrechtlich relevante Verleumdung verbreitet hatte, ist unklar. Schilling sagt, sie habe aus Sorge um eine gute Freundin gehandelt. Das ebenfalls der linken Aktivistenszene angehörende Paar hat sich inzwischen aber mehrfach geäussert und bestreitet diese Darstellung vehement.

Ebenfalls gravierend sind die gegen zwei bekannte Journalisten erhobenen Anschuldigungen. Einem unterstellte Schilling, Verhältnisse mit mehreren Politikerinnen der Grünen zu haben, was deren Integrität infrage stellt. Er erwägt laut dem «Standard» eine Klage. Von einem anderen behauptete Schilling, er habe sie belästigt. Das führte zu einer Untersuchung durch seinen Arbeitgeber, in der der Journalist den Chat-Verlauf offenlegte und belegen konnte, dass kein Fehlverhalten vorlag.

Ist das alles Tratsch, wie er in der Wiener Politik- und Medienblase alltäglich ist? Ist es eine Abrechnung in Schillings aktivistischem Umfeld? Ist es eine von der linken politischen Konkurrenz orchestrierte Kampagne zum Schaden der Grünen, für die sich der ebenfalls links positionierte «Standard» einspannen liess? Betrifft es nicht die Privatsphäre der Betroffenen? Es waren indes stets die Grünen, die besonders hohe moralische Ansprüche hatten. Sie erzwangen den Sturz des früheren Kanzlers Sebastian Kurz, weil sie eine «untadelige Person» an der Regierungsspitze forderten.

Die Antworten auf diese Fragen gehen weit auseinander. Unklar ist auch, was stimmt und was nicht. Der «Standard» legte nach und zitierte aus Chats Schillings, dass diese die Grünen «hasse» und nach der Wahl den Übertritt in die Linksfraktion erwäge. Ist die Kandidatin nicht nur intrigant, sondern auch eine Verräterin?

Das ebenfalls linke Magazin «Falter» setzte die gleichen Nachrichten stärker in den Kontext. Daraus ergibt sich das Bild einer jungen Aktivistin, der die Grünen die Chance auf eine politische Karriere boten und die mit sich rang, diesen Schritt zu machen. Einige in ihrem Umfeld sahen das offenbar sehr kritisch. Immerhin regieren die Grünen seit bald fünf Jahren mit der in dieser Szene unpopulären konservativen ÖVP.

Der Parteichef beklagt «Gemurkse und Gefurze»

Diese Zwischentöne sind allerdings kaum noch zu hören. Der Umgang mit Schilling ist gnadenlos, sie gilt als Lügnerin, als maximal beschädigt, politisch so gut wie erledigt. Dabei ist es vor allem die grüne Partei, die im Umgang mit der Affäre ein desaströses Bild abgibt. Zunächst unterzog sie die durch Protestaktionen bekannte, talentierte junge Frau keiner ausreichenden Überprüfung vor ihrer Wahl. Als Warnsignale auftauchten, wurden sie ignoriert – anders lässt sich kaum erklären, wie schlecht vorbereitet und geradezu dilettantisch die Grünen in den vergangenen Wochen reagierten.

Nach dem ersten Enthüllungsartikel im «Standard» berief die Partei eine Pressekonferenz ein, an der die gesamte Parteispitze auftrat und der Parteichef Werner Kogler die Recherche als «anonymes Gemurkse und Gefurze» abtat. Man habe mit einer Schmutzkampagne gerechnet, wie sie gegen Frauen in der Politik üblich seien. Nicht nur der Tonfall irritierte, sondern auch, dass ausgerechnet die Grünen ein seriöses Medium attackierten. Kogler entschuldigte sich später. Noch verheerender geriet aber eine zweite Pressekonferenz vergangene Woche, in der die Generalsekretärin der Partei die Sozialdemokraten «menschenverachtender Hetze» bezichtigte. Auch sie musste kurz darauf zurückkrebsen.

Ob und wie sehr die Affäre den Grünen am Wahltag schadet, ist offen. Laut einer aktuellen Umfrage verlieren sie nur leicht, die Demoskopen bezeichnen die Datenlage seit den Veröffentlichungen aber als volatil.

Gravierender sind aber die möglichen Folgen für den politischen Diskurs. Dass an der Wahlurne auch der Charakter einer Person beurteilt wird, ist klar. Inwieweit darf dafür aber das Privatleben thematisiert werden? Sind auch fragwürdige Handlungen relevant, die keinerlei Bezug zur politischen Tätigkeit haben? Zu Recht wird in Österreich eine strikte Grenze gezogen, was den höchstpersönlichen Bereich betrifft. Falsche Belästigungsvorwürfe können aber Existenzen ruinieren und gehen deshalb über diesen hinaus.

Auch anderen Medien wurden die Vorwürfe gegen Schilling angetragen, sie entschieden sich aber gegen eine Publikation. Der Presserat prüft derzeit die Berichterstattung des «Standard». Die Hysterie in der Debatte, die einige nun beklagen, ist nicht diesem Medium anzulasten. Aber in Österreich ist zum einen das Mass verlorengegangen, wenn es um die öffentliche Bewertung von flapsig verfassten, im vertrauten Kreis ausgetauschten Chat-Nachrichten geht. Zum anderen ist die Nähe zwischen Politik und Medien gross und mit ihr die Gefahr der Instrumentalisierung. Schilling und die Grünen sind nicht die Ersten, die das erfahren.

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